Paradoxe Erfindungen

BRUNO MARCHAND, LTH2, ENAC, EPFL
LAUSANNE, 27.08.2011

«Wir wollen mit unserer Architektur nicht etwas völlig Neues erfinden»: Mit diesen Worten skizzierten mir Mattias Boegli und Adrian Kramp einen der wesentlichen Punkte ihrer architektonischen Arbeit, den sie seit der Gründung des gemeinsamen Architekturbüros 2001 verfolgen. Bei unserem ersten Treffen liess mich diese Aussage aufhorchen. Im Kopf hatte ich immer noch die Bilder ihres ersten Werks – das interkantonale Gymnasium der Broye in Payerne. Damals hatte ich im Gegenteil den Eindruck, etwas Neues, Ungewöhnliches vor mir zu haben.

Das Gymnasium erschien mir zunächst als «sonderbar neue» Form, die keine oder nur wenig Berührungspunkte mit den vorherrschenden Trends in der Schularchitektur hatte. Die Form war zwar sonderbar, zugleich aber auch äusserst bestechend durch ihre grosse räumlichen Vielfalt, ihrer Einbindung in den Kontext und ihrem verblüffenden Potential, ein Raumprogramm von aussergewöhnlichem Umfang zu verdichten ohne es zu verfälschen.

«Wir versuchen nicht, etwas Neues zu erfinden»: Diese Aussage ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sie erinnerte mich an den lakonischen Satz, den Mies van der Rohe 1958 in seinem berühmten Interview zu Christian Norberg-Schultz sagte: «Wollten wir jeden Tag etwas erfinden, würden wir nicht weit kommen». Zugegebenermassen haben die beiden Aussagen nicht die gleiche Bedeutung. Der Verweis auf die Worte von Mies erlaubt es mir indes, das zeitgenössische architektonische Schaffen gegenüber unserem mitunter problematischen Erbe der Moderne, das wir jedoch nicht ausblenden können, abzugrenzen.

Mies van der Rohe äusserte diese Worte im Jahr 1958. Damals dominierte in der Architekturszene ein stilistischer Eklektizismus, den auch die bedeutenden Architekten wie Eero Saarinen, Morris Lapidus und Edward Durell Stone hemmungslos betrieben. Als Gegenentwurf zu dem, was Philip Johnson ironisch «ein köstliches Chaos» nannte, trat Mies für eine Rückkehr zur Ordnung und den klassischen Werten der Architektur ein, jedoch übertragen auf eine moderne Welt, die von neuen Programmen, der «Corporate Architecture», industriellen Materialien usw. dominiert wurde.

Für den deutschen Meister bedeutete diese Rückkehr zur Ordnung, eine «geduldige und unablässige Suche» zu betreiben, gestützt auf die systematische Verwendung gleicher Modelle, die sich oft unterschiedlicher Programme bedienten sowie auf eine minutiöse und anspruchsvolle Studie der architektonischen Grammatik – eine Art «Arbeit an den Grenzen», die strikt einer strukturalen Logik und Ästhetik folgte.

Mattias Boegli und Adrian Kramp beanspruchen für sich nicht, in irgendeiner Kontinuität mit der Architektur von Mies van der Rohe zu stehen (je nach Projekten verfolgen sie eher die Linie eines Heinrich Tessenow oder den Organizismus eines Hugo Häring oder Hans Scharoun). Es lässt sich sogar beobachten, dass sie selbst vor einem gewissen Eklektizismus keine Angst haben, an jedes Projekt wird wieder ganz neu herangegangen, indem es auf die spezifischen Anforderungen – den Ort, den Auftrag, das Programm usw. – eingeht und wiederum ebenso spezifische Lösungen hervorgebracht werden.

Dazu sagen die Architekten, ohne zu zögern: «In unserer Architektur beginnt die Suche nach dem Konzept mit dem Standort und dem Programm». Diese Methode führt unausweichlich zu einer formalen und stilistischen Diversität, die, befreit von der ideologischen Schale der Konsumprodukte und des Bilderkultes der 1950er- und 1960er-Jahre, vielmehr auf der zugleich kritischen und pragmatischen «erneuten Untersuchung» einiger Archetypen und architektonischen Sprachen basiert und ihnen eine genaue, kontextuelle und programmatische Bedeutung zuweist.

Von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, führen sie wie Mies van der Rohe eine Art persönliche und unablässige «geduldige Suche», in ihrem Fall geprägt von Bildern aus unterschiedlichsten Bezugssystemen. Zur Veranschaulichung möchte ich mich auf zwei Projekte konzentrieren, die ich aufgrund ihres Kontrastes ausgewählt habe und die beide im Jahr 2007 konzipiert wurden: den Campus Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg-Windisch und das Behindertenheim der Association La Branche in Mollie-Margot (2007-2010).

Auf dem Campus Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg-Windisch «kleiden» Mattias Boegli und Adrian Kramp die Gebäude in eine einheitliche Glashaut, die an die rationale und modernistische architektonische Sprache der bereits stehenden Bauten von Fritz Haller anknüpft. Auch stellen sie die Effizienz des Bezugsmodells – das Bürogebäude mit zentralen Kernen für die vertikale Erschliessung – nicht in Frage. Diese Typologie trägt dem komplexen Programm Rechnung, das öffentliche genutzte Bereiche, Servicezonen und in den oberen beiden Etagen Wohnungen umfasst.

Angesichts des Umfangs des Raumprogramms haben die Architekten nicht nach kompakten und elementaren Formen gesucht, sondern vielmehr nach dem Prinzip der Ausdehnung von Flächen gearbeitet. Diese werden mittels dem Volumen von aussen «beigefügten» Alveolen erlangt, was die Fassadenabwicklung beträchtlich erhöht – eine räumlich und formal sinnvolle Massnahme, mit der die Frage der Gebäudetiefe geregelt wird und sämtliche Nutzer ausnahmslos von einer freien Sicht und natürlichem Licht profitieren lässt.

An diesem speziellen Umgang mit der Volumetrie sind jedoch nicht nur einfache pragmatische Aspekte oder Nutzeffekte interessant: Mit den «alveolenförmigen Einkerbungen» versuchen die Architekten, den Gebäuden einen zugleich kompakten als auch aufgelösten Massstab zu verleihen und sie damit in den Kontext einzubetten – in Resonanz mit den benachbarten Industriegebäuden. Insofern sind mehrere widersprüchliche und komplexe Lesarten möglich, die je nach Standpunkt auf eine einheitliche «grosse Form» oder im Gegenteil auf eine Assemblage von Bauelementen verweisen, die untereinander durch eine Glashaut «zusammengehalten» werden.

Mit dem Behindertenheim der Association La Branche in Mollie-Margot (2007-2010) verändert sich der Kontext radikal: Das Projekt befindet sich auf dem Land, an einem Ort, wo Kulturlandschaften vorherrschen. «Boegli Kramp» vermeiden den Bruch mit dieser Identität und bauen zwei nahe voneinander gelegene Gebäude, zwischen denen eine Art «Dorfplatz» entsteht. Ringsherum wird der fliessende Verlauf des natürlichen Geländes sorgfältig beibehalten.

Erblickt man sie zum ersten Mal, erscheinen uns diese Gebäude vertraut, denn sie tragen die wesentlichen Züge des für die Region typischen Bauernhofes – einfache und weite Volumen, die durch klar erkennbare figurative und typisch häusliche Elemente gekennzeichnet werden: grosse Satteldächer, anscheinend zufällig angeordnete Türen und Fenster.

Doch genau diese vertrauten Elemente machen alsbald stutzig und erweisen sich hinsichtlich verschiedener Aspekte als paradox: Die polygonale Form der Gebäude (ein geschickter Verweis auf die anthroposophische Philosophie des Bauherrn) verleihen ihnen eine äusserst präzise und kontrollierte Silhouette, die in der regionalen Architekturen nicht sehr gängig ist; die Fenstermasse sind mitunter erstaunlich gross, während die Fassaden und das Dach durch die gleiche Färbung beinahe ineinander übergehen.

Die vertikalen Holzprofile erinnern durch unregelmässige Dimensionen und Abstände in ihrer Strukturierung und Tiefe an eine Baumrinde. Die traditionellen Profile (das Gesimse, die Dachrinnen) wurden praktisch auf einen einzigen dünnen Knick, auf eine Kontaktlinie zwischen den Flächen reduziert.

Auf den ersten Blick haben die kurz beschriebenen Beispiele nicht viel gemeinsam. Und doch… in beiden Fällen durchdenken Mattias Boegli und Adrian Kramp gängige Archetypen neu und bringen diese entweder mit dem Standort oder mit dem vorgegebenen Raumprogramm in Übereinstimmung. Dazu entwickeln sie diese Archetypen weiter, insbesondere indem sie ihnen widersprüchliche und mehrdeutige Werte zuweisen.

Mögen mir die Leserinnen und Leser verzeihen: Wenn ich von der Architektur von Mattias Boegli und Adrian Kramp spreche, hätte ich mich in erster Linie an anderen Bereichen orientieren und die Ausdruckskraft ihrer Bauten, die schöne Erscheinung ihrer Räume, ihre Beherrschung der Details, die von ihnen mit viel Gespür verwendeten Materialien, die in uns Emotionen wecken, betonen sollen. Falls ich (zu sehr) auf dem Umstand beharrt habe, dass ihre Werke mehrschichtig begriffen werden müssen, dann deshalb, weil ich den Worten der Architekten auf den Grund gehen wollte. Denn vielleicht beruht ein Teil der Erfindung ja gerade in diesen Paradoxien…