Vernunft von Form

Aspekte zum bisherigen Werk von Mattias Boegli und Adrian Kramp

ADRIAN MEYER, ARCHITEKT BSA
BADEN, MAI 2014

Architektur beginnt genauso mit Leere wie Musik mit Stille. Es gibt wenig Gründe, diesem Axiom zu misstrauen, sehr wohl aber welche, alles scheinbar Klare auf seine Scheinbarkeit hin zu überprüfen. Begrifflichkeiten, die wir im täglichen Gebrauch anwenden, werden plötzlich instabil, wenn wir sie auf ihre Polarität hin befragen. Das Dicke definiert sich über das Dünne, das Raue über das Glatte, das Langsame über das Schnelle und so fort.

Betrachtet man die Architektur in ihrem Hang zur Stabilität als die langsamste aller Wissenschaften, so stösst man auf das Phänomen der Masse. Deren Gebundenheit an die Schwerkraft kann man auch als Entschleunigung verstehen, die der Flüchtigkeit und der Dynamik von Raum gegenübersteht.

Die Körper der Architektur sind definiert durch Hüllen und diese zeigen das Leben der Kräfte am Bau. Sie sind mit der Geste des Inszenierens verbunden und rühren am Kern der Architektur und ihren technischen Geheimnissen. Was ist eigentlich Architektur? Sicherlich als Ganzes mehr als die Summe ihrer Teile – und darüber hinaus keine exakte Wissenschaft. Im Gegenteil, sie offenbart bei genauerer Betrachtung etwas Zwiebelhaftes, Vielschichtiges. Sie muss immer wieder aus dem Chaos des blossen Bauens geschält werden. Auf der Suche nach deren Ordnung erkennt man, dass diese sonderbar und komplex ist und nicht linear und logisch. Hüllen, die dünn sind, können dicke Körper bilden, wie Luftballone oder Zeppeline. Dicke Hüllen wiederum können dünne Körper bilden, wie lang gezogene Kanonenrohre. Die Formen solcher Geräte tragen Bedeutungen mit. Jenseits derer Bedeutung stehen aber vor allem Form und Zweck in engster Beziehung zueinander. Sie bedingen sich und halten sich in beinahe zwingender Schwebe.

In der Architektur sind die Dinge komplizierter. Bedeutungen können in der Form zwar eingelagert sein, aber kein technischer Zwang führt allein zur Form, nicht die Schwerkraft, nicht der ökonomische Zweck, nicht die Anmut, nicht der Typus, kein Topos; nichts von alledem steht für sich – alles steht für alles, immer entlang der Grenzlinie von Baukunst als kompositorischer Logik oder gebauter Trivialität. Es ist oftmals nicht eindeutig, wie dieser Verlauf definiert werden will. Über die Klärung der Frage nach architektonischer Qualität zum Beispiel. Allerdings finden sich dafür, angesichts der emotional aufgeladenen Argumente, oft nur geringe Schnittmengen für deren Vermittlung. In diesem Fall scheint es sinnvoll, die Dinge ganz pragmatisch zu sehen. Jeder architektonische Entwurf ist bestimmt vom Schritt vom Natürlichen zum Abstrakten, vom Zufälligen zum Geplanten, vom Spiel des Lichts zum konkreten, schattenlosen Bauteil. Die Formen bilden sich aus dem Prozess vom abstrakten Typus zur konkreten Konstruktion. Die Qualität zeigt sich erst in der souveränen Beherrschung, in der präzisen Ausbalancierung solcher Paradigmen und nicht in der Beliebigkeit blossen Formsuchens.

Betrachten wir das Behindertenheim in Mollie – Margot oberhalb Lausanne, so wird ganz offensichtlich, dass einige wenige entwerferische Entscheide der Architekten Mattias Boegli und Adrian Kramp die beiden Volumen so zueinander in Korrespondenz bringen, dass zusammen mit dem Landschaftsraum so etwas wie eine Unabdingbarkeit entsteht. Vier Eingänge, vier Funktionen, zwei Ebenen, zwei Häuser, eine Mitte. Einfache Volumen mit Satteldach sind so geschnitten, dass ein anthropomorphes Ganzes entsteht. Die tiefen Leibungen stabilisieren die quadratischen Öffnungen der Hülle und die vertikale Verbretterung stützt die bewusste Schwere. Das alles sind Entscheide des Architektonischen, die über ein Programm und die Ökonomie zu einer stringenten Form gefunden haben. Darüber hinaus ist bei den beiden Bauten des Behindertenheims auch die Polarität des Gebauten und der Landschaft von besonderer Bedeutung. Die Unmittelbarkeit der Setzung, das Fliessenlassen des Terrains, die Zurücknahme des Details erinnern an die Tugenden von William Turnbulls Sea Ranch aus den 1960er Jahren, in Sonoma County nördlich von San Francisco.

Eine solche Haltung tendiert zur Ganzheitsbetrachtung und unterliegt in erster Linie dem Diktat der Lehre über die Vernunft von Form. In den so verwendeten Begriffen «Vernunft» und «Form» ist beinahe das ganze Rhizom einer theoretischen Basis angelegt. Vernunft bezieht sich demnach auf alles Rationale, Berechenbare und Formbare, sozusagen aufs Emotionale und Sinnliche. Es wird, bei aller Vorsicht, aber immer eines klar – architektonisches Entwerfen ist kein linearer Prozess, sondern eine Überlagerung verschiedener gedanklicher Schichten. Ein Palimpsest von dickem Nebel und dünner Luft vermengt mit flüchtigen Gedanken und ordnenden Strukturen. Am Ende verlangen der spröde Charme trockener Programme und der ökonomische Zwang nach nichts Geringerem als nach stimmiger Gestalt.

Genau diesem Aspekt haben Boegli Kramp auch bei ihrem Opus Magnum, dem Gymnasium in Payerne, nachgespürt. Es ist zunächst einmal nichts anderes als ein Aneinander und Übereinander von Programmteilen. Der Gefahr einer räumlichen Monotonie antwortet die räumliche Komplexität geradezu souverän. Die Kraft des Konzepts entsteht erst durch die Dichte und den Entscheid zum einen Ganzen. Mit dem Prinzip der Hülle als «all over» in gestocktem Beton wird die plastische Verformung, die mehrfache Knickung der grossen Figur, eingefangen. Fenster und Öffnungen sind präzise ausdifferenziert und geben dem grossen Volumen Massstab und Prägung. Die Hermetik des prägenden Hofs wird durch die geschickte Hierarchie der Öffnungen unterlaufen und führt so zu einer schönen Intimität. Die konvexe äussere Erscheinung führt zu einer radikalen Setzung im Gelände und zeigt deutlich das Grundverständnis der Architekten nach Klarheit im Ausdruck und subtilem Eingehen auf den Ort.

Schon der Urinstinkt des Menschen verlangt nach Schutz vor Nässe, Kälte, Hitze und anderem möglichen Ungemach. Demnach wäre nach der Höhle die Urhütte das erste Stück Architektur. Hier schon findet man eine ihrer Definitionen, die simple Tatsache der unterschiedlichen Verhältnisse zwischen innen und aussen. Dazwischen allerdings steht etwas, das trennt und verbindet, nämlich die Hülle. Anhand der technischen Anforderungen an eine Hülle und deren baukünstlerischer Übersetzung erkennt man den Grad an architektonischer Absicht. Das dabei auftretende eigentliche tektonische Element der Architektur ist im Grunde die Kunst all ihrer Verbindungen – von der Verknüpfung von Räumen bis zu den Fugen der Steine. Das lässt sich so leicht dahinsagen, ist aber der Kern allen architektonischen Tuns.

Was aber führt zu architektonischer Qualität in einer Zeit, die mehr nach Ingenieuren der Seele verlangt als nach Poeten – in einer Zeit in der alles vermessen, quantifiziert und geregelt werden will? Ich glaube, Architektur teilt dort mit der gesamten Kultur das Feld, in dem es darum geht, aus einer durch die Wissenschaft immer genauer vermessenen Welt wieder etwas Ahnungsvolles zu machen.

Das heisst, architektonische Qualität wird auch durch Formen von Unschärfe erzeugt. Wenn wir aufgefordert werden, architektonische Qualität zu definieren, wirkt das oft etwas bemüht und im Vergleich zur naturwissenschaftlichen Genauigkeit scheinbar unseriös. Dabei geht es um nichts anderes als um den Unterschied. Beides aber gehört zusammen, ist überaus notwendig. Es erinnert mich an die Geschichte, als Thelonious Monk einmal bei Plattenaufnahmen zu seinem Schlagzeuger Ben Riley sagte: «Ich weiss, dass du wirklich gut spielen kannst – jetzt spiel aber mal falsch und mach das aber richtig!» Wenn ich den überraschenden Wettbewerbsentwurf der Fachhochschule in Brugg- Windisch von Boegli Kramp betrachte, dann fällt mir auf, dass der Umgang mit konvexen und konkaven Raumfolgen zu einer geradezu stupenden Vielfalt von neuen Einsichten und Aussichten führt. Der Entwurf ist geprägt von einer scheinbaren Leichtigkeit im Umgang mit der Frage nach richtig oder falsch. Es entstehen Formen von Überlagerungen und geringer Definition.

Wie bei einem Aquarell von Giorgio Morandi entstehen harte Kanten beim Aufsetzen des Pinsels und Verläufe, die einer Überbestimmung zuwiderlaufen. Das macht neugierig – sich im Grundriss zu verlaufen und von der mäandrierenden Hülle wieder einfangen zu lassen. Dass Boegli Kramp in ihrem Entwurf ganz leise den nahe stehenden Bau von Fritz Haller aus dem Jahre 1966 anklingen lassen, halte ich für bemerkenswert. Fernab von jeglichem Vatermord steht eine viel jüngere Generation ein für das Masterpiece einer Architektur, die in ihrer Stringenz heute noch ihresgleichen sucht.

Form und Material können zueinander in besonderen und scheinbar unklaren Verhältnissen stehen – sie vermitteln aber trotzdem immer Empfindung und Gefühl ohne Form. Formen sind zunächst einmal Formen, deren Bedeutungen verborgen bleiben. Sie sind aber in aller Regel Resultierende, die in ihrer Herleitung, Herstellung und Materialisierung einen Duktus bilden, der als eigentliche Sprache verstanden werden kann. Eine Sprache, die wie jede Sprache zuerst ein Verständigungsmittel ist und in ihren unterschiedlichen Anwendungen auch eine kulturelle Haltung mittragen kann. In der Formensprache der Architektur gilt es deshalb zuerst einmal, eine Grammatik freizulegen, die zwischen den räumlichen Ansprüchen, der Konstruktion und den Materialien eine unsichtbare Brücke bildet. Die Formen bleiben stabil, aber ihre Bedeutungen verändern sich durch ihre inhaltliche Bestimmung. Die Baukunst orientierte sich schon immer am Gefühl für Substanz und Masse und dem Umgang mit der architektonischen Hülle. Dies verlangt nach dem Röntgenbild ihrer Konstruktion und nicht vordergründig nach der Nobilitierung ihrer Oberfläche. Und wenn schon Oberfläche, dann geht es auch um deren Tiefe. Hüllen der Architektur haben Tiefen, die bis in die tiefsten Abgründe als Oberflächen bestehen. Entwurf und Konstruktion entwickeln sich in jedem Fall ineinander und nicht nacheinander, und eine intelligente architektonische Innovation kann nur aus Konventionen herauswachsen. Aus der Geschichte der Baukunst wissen wir zudem, dass Architektur immer in der Lage sein sollte, einen bestimmten Charakter von Vertrautheit auszudrücken, anhand dessen man Elemente wiedererkennen kann, die zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt sein können.

Genau das ist der Fall beim Erweiterungsbau der Hochschule in Zollikofen. Einem beinahe 50-jährigen Schulcampus wird ein neues Herz eingepflanzt. Die Denkmalpflege hat den Zeugen seiner Zeit zu Recht als erhaltenswert eingestuft. Hinsichtlich Zuschnitt und Gepräge tendiert die Anlage zu seinen berühmten Vorbildern, Mies van der Rohes IIT in Chicago oder Fritz Hallers Bauten in Baden oder Windisch. Es ist durchaus bemerkenswert, dass Boegli Kramp in das bestehende Konglomerat ein zentrales Unterrichts- und Eingangsgebäude eintragen, dass die strukturelle Sprache des Bestandes nur in übertragenem Sinn aufnimmt. Der Idee der Moderne, Ehrlichkeit der Konstruktion, steht eine aluminiumverkleidete Mischbauweise gegenüber, die viele der geforderten ökologischen Ansprüche zu tragen hat. Aber eben, am Ende verlangen der spröde Charme eines Programms und der ökologische Zwang nach nichts Geringerem als nach stimmiger Gestalt. Das neue Haus versteht sich in seinem selbstbewussten Auftritt als Teil einer durchaus neuen und auch zeitgebundenen Komposition. Diese Frische ist bis ins Innerste sorgfältig durchgehalten und lässt uns nichts von den nicht zu vernachlässigenden Schwierigkeiten des Entstehungsprozesses spüren. Ganz im Gegenteil. Die Arbeit verrät viel über die Haltung der Architekten Mattias Boegli und Adrian Kramp. Sie steht sozusagen für das gesamte bisherige Œuvre. Es ist genährt von Verantwortung gegenüber der Grundanlage von Architektur. Dem Satz von Alvaro Siza folgend, wonach Architekten nicht in erster Linie erfinden, sondern die Wirklichkeit verändern, verstehen sie sich als handelnde, kulturelle Täter. Sie arbeiten aus dem Kontext und respektieren die Geschichte und den Stellenwert der Konstruktion. Sie verstehen sich als ganzheitlich denkende Architekten und vertreten den konstruktiven Entwurf als etwas, das sich innerhalb des Metiers entwickeln muss, entlang den Fragen nach der Definition von Architektur, deren Grundanlage schon immer die Vitruv’sche Trias war. Daran hat sich nichts geändert. Die Kreativität als Kernkompetenz der Architekten ist das Scharnier für das Zusammenführen aller Disziplinen.